Lernen unterm Kreuz

Das Kreuz an der Fassade einer städtischen Grundschule

Drei Thesen und eine Anregung zum Nachdenken

Von Ralf Feldmann

I.

Die Anbringung eines Kreuzes in oder an einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen das Grundrecht auf Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit ( Art. 4 Grundgesetz), weil der Staat dadurch seine Pflicht zur Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen verletzt. Diese bindende Grundentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995 wird durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2011 nicht relativiert, die eine vergleichbare Fallgestaltung im italienischen Recht betrifft. Zwar sieht der Gerichtshof dort keinen Eingriff in das Menschenrecht auf negative Religionsfreiheit, wenn Schülern der Unterricht in einem mit einem Kreuz ausgestatteten Raum zugemutet werde. Die Entscheidung stellt jedoch auf die Besonderheit der Dominanz des katholischen Bekenntnisses in Italien ab und billigt im übrigen den Staaten bei der Entscheidung, ob sie eine Tradition fortsetzen und ein Kruzifix im Klassenraum anbringen wollen, einen weiten eigenen Ermessensspielraum zu. Daraus folgt, dass der das deutsche Verfassungsrecht authentisch interpretierende Kruzifixbeschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht im Widerspruch zur Europäische Menschenrechtskonvention steht, sondern die Rechtslage in Deutschland weiterhin bindend regelt.

Danach überlässt es Art. 4 Absatz1 des Grundgesetzes dem Einzelnen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkenne und verehre und welche er ablehne. Zwar folge daraus im gesellschaftlichen Bereich mit seinen unterschiedlichen Weltanschauungen nicht das Recht, von religiösen Anschauungen anderer verschont zu bleiben, wohl aber in einer „ vom Staat geschaffenen Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen er sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist.“ Für das Verhältnis des Staates zu den konkurrierenden Weltanschauungs- und Glaubensfreiheiten seiner Bürgerinnen und Bürger gilt folgendes: „Art. 4 Grundgesetz verleiht dem Einzelnen und den religiösen Gemeinschaften grundsätzliche keinen Anspruch darauf, ihrer Glaubensüberzeugung mit staatlicher Unterstützung Ausdruck zu verleihen. Aus der Glaubensfreiheit des Art.4 GG folgt im Gegenteil der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den verschiedenen Religionen und Bekenntnissen. Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahrt. Auf die zahlenmäßige Stärke oder die soziale Relevanz kommt es dabei nicht an. Der Staat hat vielmehr auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten…Auch dort, wo er mit ihnen zusammen arbeitet oder sie fördert, darf dies nicht zu einer Identifikation mit bestimmten Religionsgemeinschaften führen.“

 

II.

Staatliche Schulen in einem freien Land sind Orte freien Geistes. Schülerinnen und Schüler sollen lernen, sich mutig ihres eigenen Verstandes zu bedienen, auf diese Weise selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln und die freie Entfaltung der eigenen Person und ihrer Bedürfnisse auf der Grundlage menschlicher Gleichheit mit der Freiheit anderer in Einklang zu bringen. Nach geschichtlicher Erfahrung ist das Kreuz als oberstes Leitsymbol des christlichen Glaubens wenig geeignet, geistige Freiheit und autonome Persönlichkeitsentwicklung glaubhaft zu symbolisieren. Gedanken-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit mussten über Jahrhunderte – und bis heute unabgeschlossen – gegen die Glaubensfunktionäre der Religionen erkämpft werden – gegen Inquisition, Kerker und Scheiterhaufen, gegen die Ächtung selbst unbestreitbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse als gotteslästerliche Irrtümer, gegen das Verbot von Schriften und Büchern. Religionen, gerade auch christliche, stehen für Glaubensgehorsam, nicht für Geistesfreiheit. Der christliche Glauben gab den Segen für Eroberungskriege, missionarische Entrechtung und Unterwerfung anderer Kulturen, Sklaverei, Unterdrückung und Ausbeutung. Noch 2007 in einer Rede vor lateinamerikanischen Bischöfen beschrieb Papst Benedikt die völkermörderische Brutalität der iberischen Eroberer in Mittel- und Südamerika als christliche Wohltat, denn die Indios hätten sich „im Stillen nach Christus, dem Erlöser, gesehnt“ und die Christianisierung Südamerikas habe zu keiner Zeit eine Entfremdung der dort heimischen Kulturen gefördert.

Christliche wie andere Religionen diskriminieren wegen des Geschlechts oder sexueller Orientierung. Eine rigide Sexualmoral in fundamentalistischen Varianten des Christentums überfordert mit lustfeindlichen Geboten der Enthaltsamkeit viele Menschen, traumatisiert sie und führt immer wieder zu gewaltsamen Abirrungen bis hin zum Missbrauch von Kindern. Wer die Gebote dieser Moral nicht einhält, darf nicht auf christliche Barmherzigkeit rechnen, sondern wird ausgegrenzt und entlassen. Erst kürzlich war zu erfahren, dass gar christlich-religiöser Dogmatismus einer vergewaltigten Frau ansinnt, ein so gezeugtes Kind zu gebären.

Noch vor gut 40 Jahren wurden unter dem Zeichen des Kreuzes in christlichen Erziehungsheimen Zehntausende von besonders hilfebedürftigen Kindern und Jugendlichen systematisch unterdrückt, gedemütigt und misshandelt. Es wäre deshalb anmaßend, im Kreuz ein Symbol menschenfreundlicher Pädagogik zu sehen.

In historischer Perspektive, aber auch mit Blick auf aktuelle christliche Fundamentalismen muss vielmehr bezweifelt werden, ob die christliche Religion ein Garant der Menschenfreundlichkeit ist und Gewähr dafür bietet, stets für die Grund- und Menschenrechte einzutreten.

 

III.

Andrerseits enthalten aber die christlichen Religionen in unterschiedlichen Variationen in ihrer Kernbotschaft eine Wertesubstanz, mit denen ein friedliches, geschwisterlich-solidarisches, einander hilfreiches Zusammenleben möglich werden könnte. Das Gebot der Nächsten-, ja der Feindesliebe und die vom religiösen Selbstverständnis her an sich selbstverständliche Achtung der Gleichheit aller Menschen, sind Wertvorstellungen, die zu den Kernelementen der Grund- und Menschenrechte gehören. Für viele christliche Menschen ist diese Kernbotschaft ihres Glaubens entscheidend, nicht doktrinäre Theologie mit ihren historisch oft blutigen und diskriminierenden Folgen, denen sie meist ebenso empört gegenüber stehen wie menschenrechtlich orientierte Religionskritiker. Christliche und andere religiöse Überzeugungen, welche die unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte achten und insbesondere das Anderssein von Menschen ohne ihre Diskriminierung akzeptieren, können eine freie und solidarische Gesellschaft bereichern. Im freien Wettstreit unterschiedlicher Religionen und Werthaltungen müssen sie aber die Probe auf die Grund- und Menschenrechte bestehen. Dass sie dies unter allen Umständen wollen und verwirklichen, ist eine offene – aber die entscheidende – Frage, der sie sich stellen müssen.

 

IV.

Wenn man auf der Fassade einer städtischen Schule für das Schulleben wichtige weltanschauliche Grundwerte symbolisieren will, kann ein Kreuz, wenn überhaupt, niemals allein dominierendes Sinnbild sein, um so weniger, wenn es nur das religiöse Leitbild einer Minderheit ist. Das Kreuz ist kein Zeichen für Geistes-, Gedanken- und Meinungsfreiheit, zu denen Kinder in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft erzogen werden sollen, sondern erfordert Glaubensgehorsam. Mindestens müssten in einem Gesamtsymbol von hoher Komplexität Zeichen anderer Religionen, nicht religiöser Werthaltungen und freier Wissenschaft gleichberechtigt hinzugefügt werden, wenn diese die Probe auf die Grund- und Menschenrechte denn bestehen. Zu verdeutlichen wäre, dass in einem weltanschaulich neutralen Staat Religionen durch die Grund- und Menschenrechte gleichsam eingehegt werden. Ein Kranz miteinander verbundener Hände in den verschiedenen Hautfarben der Menschen als Begrenzung verschiedener religiöser und weltanschaulicher Symbole könnte das Wesentliche menschlichen Lernens ausdrücken: Es geht um die Menschen in unserer Welt, nicht um Götter eines fiktiven Jenseits.

Darüber lohnt es sich nachzudenken.

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