„Die Einsamkeit der Opfer“ – Ein Themenabend bei Religionsfrei im Revier

Armin Schreiner stellt Frau Baureithel vor. (Foto: Arne Stawikowski)

Unter oben genanntem Titel hat die Initiative Religionsfrei im Revier am 21.11.2024 zu zwei Vorträgen und anschließender Diskussion in den Kulturbahnhof in Bochum-Langendreer eingeladen. Das leider noch immer hochaktuelle Thema wurde von der Journalistin Ulrike Baureithel sowie von einer Bochumer Betroffenen vorgestellt und mit zahlreichen Fakten, Erfahrungsberichten und perspektivischen Überlegungen eindringlich und spannend präsentiert, die Möglichkeit zur Diskussion dankbar vom Publikum angenommen. Moderiert wurde der Abend von Armin Schreiner.

Frau Baureithel, freie Journalistin aus Berlin (mit zahlreichen Veröffentlichungen zum Beispiel in der taz) und Mitbegründerin der Wochenzeitung Der Freitag, begann mit dem Abspielen eines von Katja Riemann vorgelesenen Erfahrungsberichts (hier abrufbar), der viele der später detailliert geschilderten Problemfelder bereits andeutete: Das Ausnutzen einer mit (göttlicher) Autorität aufgeladenen Machtposition, das Wegschauen der Eltern oder anderer Bezugspersonen, die Hilflosigkeit insbesondere von Kindern, die katastrophalen Aussichten auf Erfolg beim Beschreiten des Rechtswegs und vor allem der schlichtweg – man kann es nicht anders sagen – abscheuliche Umgang der Kirchen mit ihrem seit langer Zeit bekannten Problem. Offenbar fehlt noch immer der Wille zu einer tatsächlichen Aufarbeitung und sogar zur viel propagierten und zitierten „schonungslosen Aufklärung“ – Entschädigungszahlungen von 5.000 bis 20.000 € unter der Bedingung, eine Schweigeklausel zu unterschreiben, können nur als lächerlich bezeichnet werden. In einem Fall teilte ein Erzbischof mit, dem schuldigen Pfarrer sei die öffentliche Lesung von Messen verboten worden, die angeblich „härteste Bestrafung, die einen Priester treffen kann“, eine Bestrafung zudem, die, wie die Betroffene später erfahren musste, nicht einmal konsequent durchgesetzt wurde.

Nach diesem aufwühlenden Einstieg und einer Definition von sexualisierter Gewalt präsentierte Frau Baureithel die Chronologien des Missbrauchs innerhalb der katholischen sowie der evangelischen Kirche und betonte, dass ein besserer Umgang mit diesen Verbrechen in der einen oder der anderen Kirche ein Trugbild sei. Unter dem Strich unterscheide sich die Problematik nicht nennenswert: Laut statista gibt es in der katholischen Kirche empirische Befunde zu 1670 Beschuldigten, laut Forum-Studie in der evangelischen Kirche 1259, wobei in beiden Fällen zusätzlich eine sehr große Dunkelziffer vermutet wird (Stichwort: „die Spitze der Spitze des Eisbergs“). In beiden Kirchen liegt das Alter der Betroffenen im Durchschnitt bei unter 13 Jahren und beide Kirchen bieten die gleichen Sexualverbrechen begünstigenden Beziehungskontexte, innerhalb derer mit denselben Strategien vorgegangen wird: das Versprechen von Vorteilen, das Ausnutzen emotionaler Bindung, physische Gewalt und – besonders perfide – das religiöse, sexualpädagogische oder gar gesundheitliche Verbrämen der Tat. Es gebe Fälle, erzählte Frau Baureithel, von religiöser Legitimierung der Taten, im Sinne von: Das ist die Liebe Gottes, die wir hier erfüllen. Mindestens ebenso erschreckend ist die empirische Erkenntnis, dass die Taten in aller Regel nicht aus einer Situation heraus spontan begangen werden, sondern in 83% der Fälle geplant sind.

(Foto: Arne Stawikowski)

Warum die Kirchen neben anderen Kontexten (wie Sportvereinen, Bundeswehr etc.) so herausstechen, wurde ebenfalls erklärt. Neben dem Zölibat, der zwar ein Risikofaktor, aber keinesfalls alleinerklärend sei, seien es in der katholischen Kirche unter anderem die restriktive Sexualmoral mit der neurotischen Ablehnung homosexueller Neigungen, die Machtstrukturen, die Personen mit sexueller Unreife und/oder narzisstischen Neigungen ganz besonders anzögen, und, was die Vertuschung betrifft, das Wahrnehmen des Missbrauchs als Bedrohung des Systems. In der evangelischen Kirche komme hinzu, dass es Betroffenen durch ein gesellschaftlich positiveres Bild schwer falle, Sexualverbrechen anzusprechen bzw. Gehör zu finden, und durch die föderalere Struktur komme es oft zu einer „Verantwortungsdiffusion“, also dem Hin- und Herreichen der Zuständigkeit für eine Reaktion auf entsprechende Schilderungen, ohne dass sich jemand tatsächlich verantwortlich fühle und aktiv werde.

Die Folgen für Betroffene sind selbstverständlich dieselben: Physische, psychische und soziale Probleme, genauer „körperliche Beeinträchtigungen und problematische Entwicklungen im sexuellen Erleben, posttraumatische Belastungsstörungen, Intrusionen (durch entsprechende Reize ausgelöstes traumatisches Wiedererleben), Vermeidungssymptome, Überreregbarkeit (Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen), Probleme bei der Lebensplanung, in der Partnerschaft oder im Beruf, konfliktbehaftetes Erleben des Glaubens bzw. der Sprititualität“.

Zum Abschluss ihres Vortrags verwies Frau Baureithel auf die Bestandteile einer sinnvollen, gelungenen Aufarbeitung, die vor allem Transparenz und die Benennung des erlittenen Unrechts sowie eine zielgerichtete Strategieentwicklung zur zukünftigen Vermeidung der begünstigenden Faktoren beinhalten sollten.

Eine Betroffene berichtet

Diesem fachlichen und kompetenten Einstieg in die komplexe und erschütternde Thematik folgte der naturgemäß aufwühlende Bericht einer Betroffenen aus Bochum, der sich nicht mit der eigentlichen Tat beschäftigte, sondern vielmehr mit den Konsequenzen und der schwierigen bis kaum aushaltbaren Situation – der im Titel bereits erwähnten Einsamkeit der Opfer. Das Wort „Opfer“ allerdings ist in diesem Kontext möglicherweise problematisch, ebenso wie die Bezeichnung „Missbrauch“, da diese impliziert, es gäbe auch einen korrekten „Gebrauch“ von Kindern.

Die Betroffene aus Bochum trug ein Shirt des europaweiten Bündnisses Justice Initiative, das sich für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung von Missbrauchsopfern einsetzt. (Foto: Arne Stawikowski)

Besonders herausgehoben wurde die Problematik fehlender Erfolgsaussichten beim Versuch, den juristischen Weg zu gehen. In NRW zum Beispiel werden ca. die Hälfte der Anträge direkt abgelehnt. Zu Entschädigungsleistungen kam es bei ca. 15.000 Anträgen bislang lediglich in 207 Fällen. Und selbst dann gibt es maximal eine Grundrente, die kaum zum Leben reicht. Außerdem führen therapeutische Ansätze, ganz gleich, wie viele man in Anspruch nimmt, nie dazu, mit dem Thema tatsächlich abschließen zu können. Die Folgen begleiten Betroffene ein Leben lang!

Dies wurde bei der nach einer kurzen Pause folgenden Diskussion von einer Psychologin aus dem Publikum, die sich kurzerhand zu den beiden Referentinnen auf die Bühne gesellte, bestätigt. Darüber hinaus sei der juristische Weg für Betroffene häufig nicht zielführend; denn die Beweislage reiche oft einfach nicht aus. Man erinnere sich: Die Taten sind in aller Regel von langer Hand geplant und entsprechend gut vorbereitet. Das führe dazu, dass die Täter:innen meist nicht belangt werden könnten, sich dadurch im schlimmsten Fall sogar noch bestätigt fühlten und ermutigt, derart unbehelligt weiterzumachen. Andererseits bedeute dieser schwierige Weg fast immer eine Retraumatisierung der Betroffenen, die es nahezu als einen „erneuten Missbrauch“ empfänden, sich ständig rechtfertigen zu müssen.

Was dürfen wir erwarten? Was müssen wir tun?

Was nimmt man also mit nach so einem Abend? Gibt es einen Funken Hoffnung auf Besserung? Es ist vertrackt: Natürlich gibt es Tendenzen, die Problematik ernster zu nehmen als noch vor einigen Jahren oder gar Jahrzehnten. Die katastrophale Situation innerhalb der Kirchen und ihr unredlicher Umgang mit ihren eigenen Problemen sind im öffentlichen Bewusstsein angekommen, nicht zuletzt dank unermüdlicher Bemühungen säkularer Initiativen wie Religionsfrei im Revier oder der bundesweit aktiven Giordano-Bruno-Stiftung. Entsprechend werden Berichte in der Zukunft hoffentlich weniger häufig angezweifelt oder gar belächelt.

Dennoch: Solange sich die Kirchen mit allen Mitteln und solange sie nur können gegen eine tatsächliche und angemessene strafrechtliche Verfolgung der Täter:innen durch den Rechtsstaat wehren, die Probleme vertuschen und klein reden, solange können sich die Betroffenen keinesfalls ernst genommen fühlen. Dieses Gebaren ist ein weiterer Schlag ins Gesicht derjenigen Personen, die ihr Leben lang unter den Folgen der Sexualverbrechen der Kirchen leiden müssen. Dagegen muss klar Stellung bezogen werden. Die Kirchen müssen verstehen, dass die Bevölkerung eindeutige Erwartungen an sie hat, nämlich Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und die Bereitschaft, endlich aufzuarbeiten, was in ihren Reihen bis heute geschieht. Sie müssen endlich tatsächlich Verantwortung übernehmen.

Wir müssen also in erster Linie die Aufklärungsarbeit fortsetzen und dadurch Druck auf die Kirchen aufbauen und darüber hinaus ein Bewusstsein dafür fördern, dass jeder Bericht einer solchen Tat ernst genommen werden muss und keinesfalls als (kindliche) Fantasterei abgetan werden darf. Jedem Hinweis, sei er noch so klein, muss nachgegangen werden.

Wer selbst betroffen ist, findet bei der Aufarbeitungskommission oder dem Eckigen Tisch sowie unter der kostenlosen Rufnummer 0800 4030040 Hilfsangebote.

 

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