Atheisten auf dem Kreuzzug

Dieser Text entstand als Erwiderung auf ein Exemplar der Zeitschrift „Erwachet“ aus dem November 2010. „Erwachet“ ist eine Veröffentlichung der Zeugen Jehovas. Sie wurde mir von einem freundlichen Arbeitskollegen überreicht, der dieser Glaubensgemeinschaft angehört. Ich habe den folgenden Text ursprünglich verfasst, um diesem Kollegen meinen Standpunkt zu erklären. Der Artikel aus „Erwachet“ kann hier gelesen werden: Erwachet1110 (komplettes Exemplar)

Atheisten auf dem Kreuzzug

Atheisten sind keine geschlossene Gruppe. Gesellschaftlich gesehen, gibt es Menschen, die ihr Leben oder Teile davon nach der Vorstellung eines existierenden Gottes ausrichten und Menschen, die dies nicht tun. Letztere wären dann die Atheisten, wenn man das Spektrum grob vereinfacht betrachtet.

Die gesellschaftliche Wirklichkeit sieht in Deutschland eher so aus, dass die meisten erwachsenen Menschen sich erst dann mit Gott beschäftigen, wenn sie in eine ungewohnte und meist bedrohliche Situation geraten. Die wenigsten Deutschen, auch wenn sie sich als Christen bezeichnen, üben alle Riten aus und halten sich an alle Regeln, die die Religion von ihnen verlangt.

Bei Betrachtungen zum Thema Religion ist es noch wichtiger als sonst, die Begriffe genau auseinander zu halten. Unterscheide Glaube, Religion, Kirche, Atheist, Agnostiker.

Reden wir zunächst nicht von Atheisten, sondern von Menschen, die ihr Leben nicht an der Idee eines Gottes ausrichten. Nur ein Teil dieser Menschen ist durch aktive geistige Arbeit zu der Erkenntnis gekommen, dass so etwas wie „Gott“ keinerlei Einfluss auf sie und ihre Umwelt ausübt. Vielen ist die Frage nach Gott schlicht egal und sie leben ganz gut ohne ihn. Die wenigsten von denen, die Gott nicht anerkennen, engagieren sich dafür, diese Ideen in weiteren Kreisen der Bevölkerung zu verbreiten. Und auch diese wenigen sind keine Kreuzzügler. Sie haben nicht vor, die Gläubigen zu töten. Vielmehr möchten sie ihnen die Erkenntnis bringen. Bei dieser Erkenntnis handelt es sich nicht um eine Offenbarung, sondern um einen nachvollziehbaren gedanklichen Akt. Wie dieser Gedankengang aussieht, dazu später.

Im Folgenden werde ich alle, die sich über Gott oder Götter keine Gedanken machen oder deren Existenz bestreiten, unter dem Begriff „Nichtgläubige“ zusammenfassen. Die Nichtgläubigen in Deutschland bilden inzwischen je nach Sichtweise ein Drittel bis mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Sie sehen nicht ein, warum in diesem Land den Kirchen eine Unterstützung durch den Staat und eine Machtfülle eingeräumt wird, die mit ihrer schwindenden gesellschaftlichen Bedeutung nicht mehr übereinstimmt. Wir Nichtgläubigen wollen nicht mit unseren Steuergeldern die Gehälter kirchlicher Würdenträger finanzieren. Wir wollen keinen Religionsunterricht in öffentlichen Schulen. Wir wehren uns dagegen, dass nun auch dem Islam eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung eingeräumt werden soll. Im Gegenteil, der Staat soll Religion zur Privatsache erklären, egal woran einer glaubt. Aktive Nichtgläubige werden nie jemanden wegen seines Glaubens verfolgen. Aber sie werden immer wieder Gläubige in Diskussionen verwickeln.

Nichtgläubige gehen davon aus, dass dieses Leben auf Erden das einzige ist, das sie haben und sie wünschen sich, dass dieses Leben gelingen möge. Immer wenn Gläubige mit Hinweis auf ein weiteres oder ein ewiges Leben nach dem Tod Einschränkungen des irdischen Lebens fordern, sehen sich Nichtgläubige beeinträchtigt. In der deutschen Gesellschaft sind diese Einflüsse nicht sehr groß, aber doch spürbar. Es gibt beispielsweise kirchliche Feiertage, an denen es nicht erlaubt ist, Spaß zu haben. Und wer an solchen Tagen fröhlich feiert, riskiert einen Besuch der Staatsgewalt.

„Erwachet“ sieht durchaus richtig, dass einige Nichtgläubige die Religion als Albtraum empfinden. Soweit würde ich nicht gehen. Für mich war Religion lediglich Quelle unangenehmer Gefühle. Meine Albträume haben mit Gott nichts zu tun.

„Wissenschaftsgläubigkeit“ ist ein Widerspruch in sich. Wissenschaft ist das Gegenteil von Glauben und wer an sie glaubt, ist kein Wissenschaftler. Warum das so ist, kommt an anderer Stelle.

„Erwachet“ stellt die Frage, ob der Glaube an einen Schöpfer grundsätzlich schädlich ist. Meine Antwort lautet: Für den Einzelnen ist er manchmal nützlich, für die Gesellschaft ist er auf jeden Fall schädlich.

Hat die Wissenschaft Gott abgeschafft?

Diese Frage ist einfach zu beantworten: Die Wissenschaft beschäftigt sich nicht mit Gott. Sie hat ihn weder eingeführt noch abgeschafft. Man könnte ebenso fragen: Hat der Fußball Gott abgeschafft?

In diesem Abschnitt steht der Satz: Wie jeder weiß, erfordert Gestaltung einen Gestalter.

Das ist falsch! Zum einen weiß das nicht jeder. Zum anderen kann die Evolutionstheorie erklären, warum Gestalt keinen Gestalter braucht.

Über das Leben: Ist das Leben wirklich eine besondere Erscheinung im Universum? Diese Frage spaltet sich in zwei Fragen auf: 1) Ist Leben etwas Besonderes? 2) Kommt es öfter als ein Mal im Universum vor?

Aus „Erwachet“: Wie allgemein bekannt ist, liegt jeder Information Intelligenz zugrunde.

Unsinn! Information existierte bereits Milliarden Jahre vor der Intelligenz.

Aus „Erwachet“: „Natürlich wird jedes Haus von jemandem errichtet, doch der, der alle Dinge errichtet hat, ist Gott“ (Hebräer 3:4). Klingt das nicht logisch?

Nein, es klingt nicht logisch. Weil es nicht logisch ist.

Eine Welt ohne Religion – wirklich besser?

Welt? Universum? Backen wir vorerst kleinere Brötchen. Wir wissen von Religion nur, dass es sie auf dem Planeten Erde irgendwo im Universum gibt. Für uns Menschen lautet die Frage: Eine Erde ohne Religion – wirklich besser? Die Antwort lautet: kommt drauf an. Menschen, die ihr Leben auf Erden als elend empfinden, mögen Trost durch die Religion erfahren. Menschen, die aus ihrem Leben auf Erden das Maximum heraus holen, mag es nützen, dass sich die Armen dieser Erde mit der Religion trösten. Menschen, die ihrem Verstand vertrauen, zweifeln an der Religion. Religion fordert von den Gläubigen eines der größten Opfer, die ein Mensch überhaupt bringen kann: Das Opfer des Verstandes.

„Erwachet“ bezieht sich auf die Grausamkeiten der Roten Khmer und der Stalinisten, welche offiziell Atheisten gewesen seien. Doch das bedeutet nicht, dass diese Systeme ohne Religion waren. Der Stalinismus hat wie alle totalitären Staatssysteme die Struktur einer Religion und funktioniert im Guten wie im Bösen ganz ähnlich. Gottlosigkeit bedeutet nicht automatisch Religionslosigkeit und auch Atheismus kann zur Religion werden, was aber nicht wünschenswert ist.

Gott trifft laut „Erwachet“ nicht die Schuld, wenn die Menschen Verbrechen begehen. Denn dies täten sie aus eigener Verantwortung. Ursache dafür sei die menschliche Unvollkommenheit. Der vollkommene Gott hat also ein höchst unvollkommenes Wesen geschaffen. Steht dies nicht im Widerspruch zu Gottes eigener Vollkommenheit? Und warum hindert er in seiner unendlichen Güte nicht die Menschen daran, sich gegenseitig Leid zuzufügen? Eine plausible Erklärung wäre: Gott gibt es nicht. Und damit wäre ich bei dem Gedankengang, den ich oben schon ankündigte: Niemand kann beweisen, dass Gott nicht existiert. Dies trifft aber nicht nur auf Gott zu, sondern auf jegliche Existenzbehauptung. Wer kann beweisen, dass nicht irgendwo zwischen Erde und Mars eine kleine silberne Teekanne die Sonne umkreist? Wer kann beweisen, dass Allah nicht existiert? Niemand. Deshalb geht man das Problem besser von der anderen Seite an: Wenn ich etwas nicht verstehe, sollte ich zunächst versuchen, es mithilfe dessen, was ich bereits verstanden habe, zu erklären. Die gefundene Erklärung darf nicht im Widerspruch zu meinem bisherigen Wissen stehen, weil dann entweder mein bisheriges Wissen falsch war oder die neue Erklärung nicht richtig ist. Im schlimmsten Fall ist beides falsch. Eine neu gefundene Erklärung nennt man eine Hypothese. Diese kann dazu dienen, Vorhersagen zu machen der Art: Wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, wird ein bestimmtes Ereignis eintreten. Hypothesen lassen sich durch Experimente oder Beobachtungen prüfen. Findet man einen einzigen Fall, wo die Vorhersagen der Hypothese nicht zutreffen, so ist die Hypothese falsch und muss korrigiert werden. Solange man keinen Fehler gefunden hat, kann die Hypothese als Theorie benutzt werden und es kann mit ihr gearbeitet werden. Jede echte Hypothese muss so formuliert werden, dass sie falsifizierbar ist. Deshalb ist der Satz: „Gottes Zorn wird euch früher oder später treffen.“ keine sinnvolle Hypothese, denn wenn Gottes Zorn heute nicht zuschlägt, kann er es ja zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt, was also niemals nachprüfbar ist. Hingegen ist der Satz: „Alle Schwäne sind weiß“ eine gültige Hypothese. Er gilt genau so lange, bis der erste nichtweiße Schwan gefunden wird.

Es geht auf der Welt überall mit rechten Dingen zu und die Naturgesetze werden und wurden zu keiner Zeit verletzt. Allerdings sind die Naturgesetze noch nicht bis ins Letzte verstanden, weshalb manchmal Beobachtungen gemacht werden, die die Naturgesetze scheinbar verletzen. Naturgesetze sind aber ebenfalls Hypothesen, die korrigiert werden können. Auf diese Weise nähert sich die Wissenschaft Stück für Stück der Wahrheit an. Nach heutigem Wissen ist es überflüssig und liefert keine Erkenntnis, das Wirken eines übernatürlichen Gottes anzunehmen, wenn man mal was nicht verstanden hat oder nicht akzeptieren kann. Alles Leben und Sterben folgt den Naturgesetzen. Gott ist zur Erklärung der Welt eine ebenso überflüssige Annahme wie die oben erwähnte Teekanne. Man kann beliebig viele überflüssige Annahmen treffen, wodurch allerdings das Denken behindert wird und Erkenntnisprozess zum Stillstand kommt. Das Vermeiden überflüssiger Annahmen wird auch Sparsamkeitsregel oder Ockhams Rasiermesser nach einem Mönch des 13. Jahrhunderts genannt.

„Erwachet“ fällt in seiner Argumentation immer wieder darauf zurück, dass Gott existiert, was, wie wir eben gesehen haben, eher unwahrscheinlich ist.

Als nächstes wird die Frage gestellt, ob man ein guter Mensch sein kann ohne eine absolute, von Gott kommende Moral. Eine absolute Moral existiert aber weder mit noch ohne Religion. Moral ist die Ausformung ethischen Verhaltens in Form von Regeln, deren Missachtung Strafe nach sich zieht. Ethisches Verhalten hingegen ist Interessenausgleich. Ich nehme meinem Mitmenschen nichts weg, weil ich nicht möchte, dass er mir was wegnimmt. Ich vermeide es, Lärm zu machen, weil ich selbst Lärm nicht ausstehen kann. Bei ethischen Fragen muss man zunächst festlegen, wer überhaupt an dem Interessenausgleich beteiligt werden soll. Zu alttestamentarischer Zeit waren es nur die Männer, die miteinander einen moralischen Umgang pflegten. Frauen und Kinder waren Eigentum der Männer und somit keine Teilnehmer des ethischen Prozesses. Im Lauf der Geschichte kamen Frauen und Kinder in den Kreis des Interessenausgleichs hinzu und heute fordern bereits einige die Einbeziehung wenigstens der höchstentwickelten Tiere. Wir sehen, Ethik ist im Fluss und Moral bestenfalls die Festschreibung eines vorläufigen Standes der Ethikdebatte.

„Erwachet“ ist stilistisch nicht schlecht und strahlt eine Pseudo-Intellektualität aus, die sicher viele Leser beeindruckt. Es werden aber Spekulationen als Tatsachen dargestellt und statt sauberer Argumentation werden rhetorische Mittel wie: Ist es nicht logisch, dass… eingesetzt. Wir haben es hier mit einem demagogischen Pamphlet zu tun, welches mit spitzen Fingern angefasst und mit wachem Verstand gelesen werden muss.

Peter Ofenbäck


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